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Inspirierende Menschen und neue Gedankengänge

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Sicherlich bin ich nicht die Einzige, der es so geht. Man lebt sein Leben so vor sich hin. Die Gedanken umkreisen meist die gleichen Themen und im Kopf herrscht einfach nur Einheitsbrei. Ist ja auch erstmal nicht grundsätzlich schlecht…mich jeden Tag mit weltbewegenden Themen zu beschäftigen, würde meine Hirnkapazität wahrscheinlich schnell sprengen.

Aber es gibt diese Momente, da braucht man mal neue Impulse. Die Gedanken sollen mal links- statt rechtsherum kreisen. Das Gehirn braucht ein paar Sporteinheiten, so dass es sich selbst mal wieder spürt und vielleicht ein bißchen Muskelkater bekommt. Gedankensport, sozusagen.

Es gibt viele inspirierende Menschen auf dieser Welt, die in der Lage sind um Ecken zu denken. Sie stellen Zusammenhänge her, die mir verschlossen waren und bieten eine Perspektive auf Dinge, die ich bislang übersehen habe. Und vor allem gibt es Menschen, die für Themen brennen.

Und genau solche Menschen trifft man auf der see-Conference. Meine Entdeckung des Jahrzehnts war damals Harald Welzer. Der ist – wie ich inzwischen weiß – alles andere als unbekannt. Inzwischen lese ich häufiger Artikel über oder von ihm und bin jedes Mal wieder begeistert.

Die see-Conference, die von Scholz & Volkmer in Wiesbaden seit 10 Jahren organisiert wird, bezeichnet sich selbst als Designkonferenz, die Trends aus der Welt der „Visualisierung der Daten“ präsentiert. Das allein wäre für mich eher am Rande interessant. Im übertragenen Sinne beschäftigt sie sich jedoch mit dem „Design“ unserer Welt. Es geht um Kommunikation, um Nachhaltigkeit, um Kreativität, um den Blick über den Tellerrand. Es geht um Visionäre.

see conference Wiesbaden Scholz und Volkmer

Dieses Jahr konnte ich nun das erste Mal auch live dabei sein, nachdem ich in den vergangenen Jahren die Sprecher nur im nachhinein auf Videos bewundern durfte. Und es hat sich gelohnt. Tief beeindruckt und manchmal auch ein wenig demütig ging ich am Ende nach Hause. Demütig, weil mich das Feuer und die Kreativität der Redner wahnsinnig mitgerissen hat und ich dann gerne mal selbstkritisch werde.

Ich möchte konkret drei Vorträge herausgreifen, die mich am meisten zum Nachdenken gebracht haben.

Aral Balkan – Designer, Programmierer und Menschenrechtsaktivist

In seinem Vortrag ging es um die nicht unbekannte Diskussion der Datenhoheit und -freiheit. Kritikpunkt ist die Macht weniger großer Konzeren und Datenspeicherung im Allgemeinen. Knackpunkt ist die Unmöglichkeit jedes Einzelnen nachzuvollziehen, wo die eigenen Daten gespeichert werden und was damit geschieht. Beispielhaft demonstrierte er den Besuch einer Webseite, bei der in der Folge die Daten an 84 weitere Seiten gemeldet wurden. Für den Durchschnittsbesucher erstmal nicht nachvollziehbar.

Er geht aber noch weiter und vergleicht das Vorgehen großer Konzerne mit Sklaverei. Während es in der Geschichte der Sklaverei um den Verkauf von Körpern ging, geht es heute um den Verkauf aller Rahmendaten eines Menschen. In der Folge sieht er in dem aktuellen Umgang der zentralen und instransparenten Datenspeicherung eine Verletzung der Menschenrechte.

Solange Datensicherheits-Konferenzen von Großkonzerenen wie Facebook & Co. gesponsort werden und Konzere bei EU-Ministern täglich auf der Matte stehen, wird sich daran auch nichts ändern.

Balkan versucht sich dem entgegenzustellen und Lösungen zu finden. Denn unrealistisch ist, dass aus Angst nicht mehr das Internet genutzt wird. Stattdessen muss der Umgang mit Daten neu definiert werden. Demokratie und Dezentralisierung  sind in diesem Zusammenhang wichtige Begriffe. Mehr zu ihm und seiner Arbeit findet man auf Ind.ie.

see conference aral balkan

Cesy Leonard – Planungschefin des „Zentrum für politische Schönheit“

Für mich der beeindruckendste Vortrag. Cesy Leonard stellte Aktionen des Zentrums vor, bei dem es vor allem um Außenpolitik ging. Da ging es um einen Aufruf zum Öffnen der EU-Außengrenzen, um das Abmontieren von Kreuzen an der innerdeutschen Grenze, um sie an EU-Außengrenzen zu bringen.

Sie berichtete aber auch von einer beeindruckenden Aktion, bei der im Namen der Bundesregierung Pflegeeltern für syrische Kinder gesucht wurden. In einer perfekt organisierten und vor allem gefälschten Kampange wurden deutsche Eltern dazu aufgerufen, syrische Kinder aufzunehmen, um sie in Sicherheit zu bringen. Vorbild war die Kindertransporthilfe Englands im Jahr 1938, bei der die Grenzen für jüdische Kinder geöffnet wurden, um sie vor dem Tod zu bewahren.

Bei der geplanten Aktion wirkten auch Überlebende der damaligen Kindertransporthilfe mit. Beeindruckend war vor allem, dass die Planung bei den Bürgern Erfolg hatte und sich innerhalb von 48 Stunden viele hilfsbereite Menschen meldeten. Ziel war, Druck auf die Bundesregierung auszuüben und die Kindertransporthilfe Wirklichkeit werden zu lassen. Leider ohne Erfolg.

Die Aktionen bewegen sich, wie sich schon vermuten lässt, am Rande des legalen bzw. überschreiten diese Grenze auch. Ich finde den Mut, den Ideenreichtum und die konsequente Umsetzung absolut beeindruckend. Selbst bezeichnen sie es als „aggressiven Humanismus“ und kritisieren damit auch Symbolaktionen anderer Organisationen. Wenn ihr mehr über das „Zentrum für politische Schönheit“ erfahren wollt, dann schaut auf www.politicalbeauty.de

see_Wiesbaden_CesyLeonard

Césare Peeren – Architekt für nachhaltiges Bauen

Césare Peeren ist Architekt. Jedoch geht es nicht um Architektur im herkömmlichen Sinne. Hinter seinen Planungen steckt eine Philosophie, die über das Schlagwort „Nachhaltigkeit“ hinausgeht. So sagt er selbst beispielsweise, dass er keine neuen Häuser bauen möchte, denn es gebe bereits mehr als genug. Seine Mission ist es, Häuser umzubauen.

Der Fokus liegt ganz klar auf der Natur oder dem Körper als geschlossenen Organismus. In der Natur ist alles miteinander verbunden, das Abfallprodukt des einen, dient zur Erhaltung des anderen. Alles hat einen Sinn. Dem gegenüber sieht er von Menschenhand gebaute „super cities“, mit denen wir uns von der Natur separieren.

Peeren stellt Projekte vor, bei denen er vermeintliche Abfallprodukte nutzt, um Neues zu erschaffen oder verbessern. So zum Beispiel kaputte Windradflügel, aus denen er schon Spielplätze oder Hausbestandteile entworfen hat. Es geht ihm nicht um die Dekoration, sondern die tatsächlich funktionale Nutzen und damit sinnbehaftete Wiederverwertung.

Oder er installiert ein Treibhaus auf dem Dach eines Bürogebäudes, in dem das ausgestoßene CO2 für die Pflanzen genutzt wird. Diese wiederum werden so gepflanzt, dass die im Haus ansässige Kantine diese nutzen kann. Sein Ziel ist es, eine Art Organismus im Haus zu erschaffen.

Faszinierend war jedoch nicht nur die Präsentation der Projekte, sondern die Konsequenz, mit der er hinter dieser Idee steht. So erzählte Peeren, dass er erstmal 4 Jahre kämpfen musste, bevor er tatsächlich Projekte bekam. Denn nicht jedem ist diese unkonventionelle Herangehensweise zugänglich. Und manchmal ergibt sich auch erst während der Planungsphase die genaue Ausgestaltung. Mehr dazu findet ihr auf www.superuse-studios.com

see_Wiesbaden_Peeren

Ich hoffe, ich konnte meine Begeisterung ein wenig rüberbringen und euch ebenso ein wenig von dem inspirierenden Flair ins Wohnzimmer wehen. Die Reden findet ihr übrigens in Kürze auch auf der Seite der see-Conference, so dass ihr hoffentlich nachvollziehen könnt, was ich meine. Auch die anderen Redner waren wunderbar, doch die herausgegriffenen drei Vorträge haben einfach Spuren hinterlassen.

Ob bei der see-Conference oder woanders: umgebt euch hin und wieder bewusst mit neuen Menschen, die möglicherweise so ganz anders denken oder aus anderen Bereichen kommen. Gedankensport kann einem so viel geben und die eigene kleine Welt vielleicht manchmal auch ein wenig durchschütteln. In meinem Kopf ist jedenfalls ziemlich viel frischer Wind.

An der Stelle einen großen Dank an Scholz & Volkmer für die Einladung. Wie ich aus den Videos der Vorjahre schon erwartet hatte, wurden alle Erwartungen mehr als erfüllt.


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